Festrede_Schenkel_dies 2013 - page 11

Von Kepler bis zur eigentlichen Raumfahrt: eine explosive Mischung aus Literatur, Traum und
Wissenschaft. Immer wieder stoßen wir auf Dämonen nicht nur des Wissens, sondern auch poli-
tischer Art, die sich der Rakete bemächtigen.
Keplers Traum ist Ausgangspunkt meiner Überlegungen über Verhältnisse zwischen Imagination
und Rationalität. Ich möchte dies an sechs Kontaktzonen zeigen:
- Themen
- Gedankenexperiment
- Irrtum
- Traum
- Paradoxie
- Spezialisierung
1. Themen
Kepler war nicht der erste, der über den Mond schrieb. Vor ihm taten dies unter anderem Lukian
von Samosata oder Plutarch. Ariosto, in
Orlando Furiosos
(1532), schickte seinen Ritter Astolp-
ho zum Mond, um den Verstand des großen Orlando wiederzufinden, den dieser verloren hatte,
denn alle verlorenen Dinge (Liebesschwüre zum Beispiel) finden sich auf dem Mond in Flaschen
wieder.
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Doch Kepler wählte den Mond, weil er am ehesten dazu taugte, die neue kopernikani-
sche Theorie anschaulich erfahrbar zu machen. Die Anschaulichkeit (zumindest in der Vorstel-
lung des Laien) einer naturwissenschaftlichen Theorie war immer dazu angetan, Kräfte der Ima-
gination freizusetzen.
Geht man die Wissenschaftsgeschichte durch, so wird man feststellen, dass sich Literatur immer
den Naturwissenschaften annähert bzw. von diesen aufgesucht wird, wenn sich Gegenstän-
de/Theorien auftun, die begreifbar zu sein scheinen, weil man sie mit vertrauten Phänomenen
verbindet. Das betrifft solche Knotenpunkte wie – neben dem Mond – Elektrizität, Darwinismus,
Relativitätstheorie, nicht-euklidische Geometrie, Chaostheorie oder Genetik. In allen Fällen wird
die literarische Phantasie von Bildern angezogen, die mit diesen Themen verbunden sind und in
denen sie sich wiederfindet.
So verbindet die
Elektrizität
das Übernatürliche mit der diesseitigen Welt, sie suggeriert göttli-
che Mächte in der Hand des Menschen und fordert sozusagen eine elektrische Theologie. Man
denke an Mary Shelleys
Frankenstein
, in dem ein Mensch mit Hilfe von Elektrizität einen zu-
sammengebauten Menschen belebt und dadurch den Platz Gottes einnimmt.
Der
Darwinismus
provozierte mit dem Affen, d. h. mit der Naturgeschichtlichkeit des Menschen
und löste eine Flut von Erzählungen und Bildern aus, die wiederum die Frage der göttlichen
Schöpfung stellen. Hier sei nur auf Romane von Zola oder Hardy hingewiesen, oder auf Conan
Doyles
Lost World
und Wilhelm Buschs
Fipps der Affe
.
Die
Relativitätstheorie
wie die
Quantenphysik
sind hochkomplexe Denkgebilde, doch die Li-
teratur stürzte sich auf Konzepte der Relativität, die ihr längst vertraut waren aus der Kulturge-
schichte – sagen wir, seitdem Montaigne einen Essay über die Kannibalen schrieb und zeigte,
wie relativ unsere moralischen Vorstellungen sind. Der Alltagsverstand sagte ohnehin schon
lange „alles ist relativ“ und so schien auch diese Theorie verdaubar zu sein. Der „Quanten-
sprung“ ist längst zur journalistischen Formel verkommen, die kaum etwas mit der physikali-
schen Bedeutung zu tun hat. Dass Astronauten bei annähernder Lichtgeschwindigkeit immer
langsamer altern und bei ihrer Rückkehr eine längst veränderte Erde vorfinden, ist ein Muster,
das uns aus vielen Legenden und Märchen bekannt ist – von den biblischen Sieben Schläfern und
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In Douglas Adams’
Per Anhalter durch die Galaxis
gibt einen Planeten, auf dem sich alle verlorengegangenen
Kulis einfinden.
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