Festrede_Schenkel_dies 2013 - page 10

dieser Zeit gehen schon nicht mehr von Aliens aus. Kepler und Kopernikus wurden übrigens von
dem Jesuiten Giambattista Riccioli, der 1651 eine der ersten modernen Mondkarten entwarf, zur
Strafe für ihre der Kirche zuwiderlaufende Astronomie mit Kratern in der Nähe des Meeres der
Stürme belohnt, denn wenn dieser Oceanus Procellarum gut zu sehen war, so glaubte man, wür-
de es schlechtes Wetter geben. Dass der Himmel gern zu politischen und privaten Zwecken be-
nutzt wird, wissen wir, seitdem Galileo die vier Monde des Jupiter, der übrigens insgesamt 67
hat, nach seinen Gönnern die
Mediceischen Sterne
nannte. Später erhielten sie Namen aus der
griechischen Mythologie, nach einem Vorschlag Keplers. Auch die Universität Leipzig hat sich
einmal des Sternenhimmels bedient, um sich bei einem (vorläufigen) Sieger der Geschichte ein-
zuschmeicheln. Die Rede ist nicht von einer
Karl-Marx-Galaxie
, sondern von den
Etoiles de
Napoléon.
Als 1806 der triumphierende Napoleon nach Leipzig kam, wollte man ihm diese
Widmung einer ganzen Sternenkette überreichen, doch der Kaiser hatte es gerade etwas eilig und
so blieb den Sternen auf dem Gürtel und Schwert des Orion eine irdische Dummheit erspart.
Jules Vernes Romane über die Reise zum Mond und um den Mond (1865, 1870) setzt allen Spe-
kulationen über Mondbewohner ein Ende. Dennoch sollten gerade diese Romane die tatsächliche
Fahrt zum Mond wie kaum ein anderes Faktum beeinflussen. Man müsste geradezu schreiben:
„Über die Geburt der Raumfahrt aus dem Geiste der Literatur“. Auf der einen Seite war der Va-
ter der russischen Raumfahrt, Konstantin Ziolkowski, ein großer Leser Jules Vernes. Auf der
anderen finden wir einen Schüler in Siebenbürgen namens Hermann Oberth, der mit Jules Ver-
nes Berechnungen nicht einverstanden ist und seine eigenen durchführt. Um die Möglichkeiten
der Raumfahrt zu erkunden, sieht man ihn oft in einem Schwimmbad von Sprungbrettern sprin-
gen. Damit will er die Auswirkungen von Beschleunigung und Schwerkraft am eigenen Leib
erproben. Später wird er eine Dissertation einreichen zum Thema:
Die Rakete zu den Planeten-
räumen.
Die Universität Heidelberg lehnte 1922 dankend ab. Doch Oberths Berechnungen bilde-
ten die Grundlage für die eigentliche Raumfahrt. In den 1920ern war er bei Fritz Langs Film
Die
Frau im Mond
als Berater tätig. Der Regisseur erfand dafür übrigens den Countdown. Auch
Wernher von Braun, der erfolgreich-erbarmungslose Verwirklicher seiner Raketenträume, führt
seine Faszination auf die frühe Lektüre Jules Vernes zurück. Spätestens hier muss gesagt wer-
den, dass meine Darstellung der gemeinsamen Begegnungsräume von Literatur und Wissen-
schaft/Technik nicht nur ein Spielzimmer ist. Von Braun ist ein Beispiel dafür, dass eine durch
die literarische Imagination gefütterte Rationalität und Technikfreude über Leichen gehen kann
oder Menschenleben fordert. Zerstörung ist ebenso Teil eines solchen Vertrags – man denke nur
an Albert Speer oder Hitler selbst – allesamt der Kunst verfallen, auf ihre spezifische Art. Nar-
zissmus und rücksichtsloser Einsatz von Macht zur Verwirklichung der eigenen Ziele können
durch die literarisch-künstlerische Phantasie in bestimmten Fällen gar intensiviert werden. Gera-
de deshalb aber sollten wir uns diesen Bereichen zuwenden, in denen sich diese beiden großen
Kräfte – Rationalität und Imagination – begegnen, denn sie bedürfen der genauen Beobachtung
und politischen Eingrenzung.
Jules Vernes Mondfahrt sollte dann genau ein Jahrhundert später stattfinden, auch wenn die Ast-
ronauten nicht aus einer Kanone geschossen wurden. Interessanterweise trifft vieles, was Jules
Verne beschreibt, präzise ein: Der Abschussort ist Florida, Texas ist der Konkurrent, man landet
im Meer, es sind drei Astronauten, wie bei Apollo 11, einer heißt Nicholl bei Verne, Collins bei
der NASA, ein anderer Ardan bei Verne, Aldrin bei der NASA. Stoff für künftige Verschwö-
rungstheorien! Vor allem aber sieht er den ungeheuren Media-Hype voraus, er erkennt die globa-
le Bedeutung des Geschehens und zeigt auf die Vernetzung der Raumfahrt mit dem militärisch-
industriellen Komplex.
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Bevor Armstrong übrigens seinen berühmten Fußabdruck hinterließ, eine Ikone der Menschheit wie der 3,5 Milli-
onen Jahre alte Fußabdruck von Lucy, einer Vertreterin des Australopithecus afarensis, und jenes große Wort vom
Großen Sprung der Menschheit tat, vollbrachte er etwas anderes: er warf erst einmal eine Tüte mit Müll auf den
Mond.
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