Festrede_Schenkel_dies 2013 - page 7

Keplers Dämon. Begegnungen zwischen Literatur,
Traum und Wissenschaft
„Wer nichts als Chemie versteht,
versteht auch die nicht recht.“
Georg Christoph Lichtenberg
Sehr geehrte Rektorin Frau Professor Schücking,
meine Damen und Herren,
ich danke für die Möglichkeit, anlässlich des 604. Geburtstages der Universität Leipzig Gedan-
ken zu skizzieren, die mit der Begegnung zwischen den Wissenschaften und der Imagination –
sei es als Traum, Kunst oder Literatur verstanden – zu tun haben. Es geht mir darum zu zeigen,
wie wichtig es ist, sich diesen Zwischenbereichen und Begegnungsräumen zu widmen, da in
ihnen oft die entscheidenden Intuitionen und Ideen entstehen, aber auch gesellschaftliche und
politische Prozesse ablaufen, die sich die Wissenschaften im Guten wie im Bösen zunutze ma-
chen.
Da ich Anglist bin, möchte ich Lichtenbergs Motto folgendermaßen umformulieren: „Wer nichts
als Englisch versteht, versteht auch dieses nicht recht.“ Heute geht es aber nicht um mein Fach,
sondern um die Beziehungen zwischen Fächern und Schubladen, und das ist immer auch eine
Frage der beteiligten Menschen. Ein Zeitgenosse Lichtenbergs hatte dies erkannt: „Man könnte
die Menschen in zwei Klassen abteilen; in solche, die sich auf eine Metapher und 2) in solche,
die sich auf eine Formel verstehn. Deren, die sich auf beides verstehn, sind zu wenige, sie ma-
chen keine Klasse aus.“ Ja, sie machen keine Klasse aus, die Menschen, die Heinrich von Kleist
hier beschreibt, aber die Universität scheint mir ein Ort zu sein, der ohne diese Menschen nicht
auskommt oder auskommen sollte. Wenn wir uns den Zwischenbereichen zwischen Literatur
und Wissenschaft zuwenden, werden wir immer wieder auf solche Menschen stoßen.
Keplers Mond und die Zwei Kulturen
Lassen Sie mich mit etwas Nahem beginnen, dem Mond. Was macht diesen Himmelskörper
nah? Nach neueren Theorien ist der Mond mehr oder weniger ein Teil der Erde. Nachdem ein
riesiger Asteroid auf die Erde einschlug, bildete sich ein Materiegürtel um die Erde, der sich zum
Mond formte. Auf merkwürdige Weise sind wir weiter mit ihm verbunden – nämlich durch unse-
re Fingernägel. Während sie jedes Jahr ca. 3 cm wachsen, entfernt sich der Mond in genau die-
sem Abstand von der Erde. Er ist auch der einzige Himmelskörper, den wir in einem Menschen-
leben zu Fuß erreichen könnten, gäbe es nur eine Straße dorthin oder wenigstens einen Radweg.
Mit dem Mond begann das Rechnen und Kalendermachen der Menschen – die ältesten Zeichen-
Kerbungen, die wir kennen, beziehen sich auf Mondphasen. Er ist der sichtbarste Himmelskörper
der Nacht, seine Stellungen ändern sich in auffälliger Weise mit dem Rhythmus der Zeit. Er ist
daher der ideale Zeitmesser. Es gibt sogar etymologische Hinweise darauf, dass das Wort
Mo-
nat/Mond
mit
mensurare/mensis
zusammenhängt und damit mit
mens
, dem Geist,
mental
, ja
vielleicht
Mensch
selbst. Vor allem hat er die Dichter und Liebenden immer wieder angeregt,
unter seinem Einfluss haben Menschen sich romantisch gefühlt, der Vergänglichkeit nachgetrau-
ert oder Hoffnungen und Wünsche projiziert. Wir haben den Mann im Mond gesehen, die Frau
im Mond ebenso wie das Kaninchen, das die Chinesen sehen oder andere Wesen. Er ist somit die
ideale Projektionsfläche für unsere seelischen Belange: Angst, Traum, Phantasie, Hoffnung,
Wunsch, Liebe und Tod. Insofern ist er, mehr als etwa Sonne oder Sterne, ein universelles psy-
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