Festrede_Schenkel_dies 2013 - page 9

Dach des träumenden Kepler und er muss zurück in eine Realität, die von Religions- und Macht-
kämpfen und Umbrüchen aller Art geprägt sein wird. Kepler sollte nach 1609 noch viele Jahre
an diesem Manuskript arbeiten. Die Spuren dieser Arbeit sind Keplers geographischer Anhang
sowie die 223 Fußnoten, die diesen kurzen, gerade mal zwanzigseitigen Text, umrahmen. Die
Zusätze sind mehr als dreimal so lang wie die eigentliche Erzählung. Um diese Spannung zwi-
schen Fußnoten und Erzählung geht es mir: Sie entsteht aus eben der Doppelung des Mondes als
Objekt von Rationalität wie Phantasie. In den Fußnoten liefert Kepler zahlreiche Erklärungen für
Phänomene nach, von denen der Traum spricht: von Entfernungen, Größenunterschieden, Licht,
Dunkelheit und dem Schatten der Erde. Anekdoten werden eingesprengt, Nachrichten über neu-
este Entdeckungen und Briefe und dergleichen mehr. Aus heutiger Sicht würden wir sagen: Der
Text, der sechs verschiedene Erzählebenen ineinander verschachtelt, ist ein Werk der Postmo-
derne – parodistisch, gelehrt, versponnen, surreal und labyrinthisch, würdig der gelehrten Ironie
eines Jorge Luis Borges.
Zugleich würden wir – und das ist mein Ausgangspunkt – sagen, es handelt sich um das erste
Werk der Science Fiction in seiner ursprünglichen Bedeutung: Wissenschaft lässt sich mit Erfin-
dung, Fingierung, Phantasie ein. Sie nutzt die Phantasie als exploratives Medium, als Werkzeug,
um die Horizonte der Erkenntnis voranzuschieben.
Keplers Extrapolation steht zugleich für ein weiteres Phänomen, das mit science und fiction zu-
sammenhängt: die sogenannten Zwei Kulturen. In seinem Text kommen erklärende und verste-
hende Verfahren gemeinsam zum Zuge, wenn auch durch die Typographie getrennt. Die Fußno-
ten objektivieren, was in der Erzählung ausgemalt wird. Astronomie ist zu seiner Zeit noch eine
Wissenschaft, die beides in sich enthält: Sternenkunde im wissenschaftlichen wie im astrologi-
schen Sinn. Kepler selbst hat ja Horoskope erstellt, unter anderem für Wallenstein. Auch andere
Geister dieser Übergangszeit standen wie Hamlet – Shakespeares Stück stammt etwa aus dem
Jahrzehnt, als Kepler vom Mond träumte – mit ihren Beinen in verschiedenen Welten. Der große
Begründer der modernen Naturwissenschaften, Isaac Newton, beschäftigte sich nachts mit Al-
chemie. Und noch 1707 findet man auf einem Stich die Konstellation der Jungfrau als gutes O-
men über der Leipziger Universität schweben. Seither ist eine scharfe Trennung vollzogen wor-
den zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, über deren Schärfe man sich im 19. Jahrhundert
bewusst zu werden begann. Doch erst mit dem Briten C. P. Snow wurde die Debatte in den
1950er Jahren auf einen Begriff gebracht:
The Two Cultures
. Snow bewegte sich als Autor und
Wissenschaftler in beiden Milieus und wunderte sich, dass etwa Humanwissenschaftler mit
Thermodynamik gar nichts anzufangen wussten. Inzwischen ist das Bild viel komplexer gewor-
den, Sozialwissenschaften haben sich entwickelt, teils mit naturwissenschaftlichen Methoden,
ebenso hat die Digitalisierung zu neuen Grenzüberschreitungen geführt. Eigentlich haben wir
Dutzende von wissenschaftlichen Kulturen. Geblieben ist die traurige Tatsache, dass wir einan-
der nicht oder nur selten verstehen. Es beginnt übrigens schon im eigenen Fach und ist zweifel-
los eine Folge erbarmungsloser Spezialisierung. Da ich im Rahmen des studium universale seit
Jahren mit allen möglichen wissenschaftlichen Fraktionen zu tun habe, erstaunt mich oft ein ab-
gründiges Unverständnis, oft auch Nicht-Verstehen-Wollen des jeweils anderen Faches.
Nachdem Kepler also eine Begegnung zwischen Traum, Literatur und Wissenschaft initiiert hat-
te, die den Mond anvisierte, sollte dieser immer wieder zum Objekt solcher Mischungen aus Ra-
tionalität und Phantastik werden. Mondreisen häufen sich im 17. und 18. Jahrhundert – unter
anderem mit aufklärerischem Zweck: Der Mond ist die neue Kolonie, die Mondwesen sind oft
intelligenter als die Menschen und halten ihnen den Spiegel vor. Ich erinnere nur an Cyrano de
Bergeracs großartig satirisches Werk über die Reiche von Sonne und Mond. Bis etwa 1850 hält
sich hartnäckig der Glaube an die Bewohntheit des Mondes. Noch 1835 gab es in den USA den
sogenannten
Moon Hoax
. Nachdem eine Reihe von Artikeln in der New York Sun über Sichtun-
gen von Mondmenschen berichtet hatte, herrschte große öffentliche Aufregung, die sich kurz
darauf in Empörung verwandelte, als man erfuhr, dass alles nur ein Scherz war. Die Mondkarten
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